Die Drachenbande - Die neue Buchreihe von florian und Peter Freund!
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Leseprobe: "Laura und das Siegel der Sieben Monde"

Ein anerkennendes Lächeln erhellte das faltige Gesicht von Aurelius Morgenstern. »Gut kombiniert, Laura. Dominikus war trotz seiner Blindheit in der Lage, längere Schreiben eigenhändig zu verfassen, und er teilte mir damals mit, dass seine Mitbrüder seit einigen Tagen ein verdächtiges Auto in der Nähe des Klosters beobachtet hätten - einen schwarzen Lieferwagen. Zudem hatte jemand versucht, sich Zugang zu dem geheimen Archiv zu verschaffen, während er in der Klinik lag. Spätestens da wurde mir klar, dass unsere Feinde entweder wussten, dass sich Besuch aus Aventerra im Kloster aufhielt, oder -«

Aurelius brach ab. Seine Augen wurden schmal, und er biss sich nachdenklich auf die Lippen, als habe er Laura bereits zu viel verraten.

»Oder?«, setzte Laura wissbegierig nach.

Der Professor zögerte einen Moment, bevor er sich zur Antwort entschloss. »Oder dass sie verhindern wollten, dass du Kenntnis von dem großen Geheimnis erhältst, das seit undenklichen Zeiten in der unterirdischen Bibliothek bewahrt wird.«

Laura glaubte ihren Ohren nicht zu trauen. »Sie meinen doch nicht etwa ... das Siegel der Sieben Monde?«

Aurelius Morgenstern nickte bedächtig, und die Worte kamen fast geflüstert aus seinem Mund. »Doch, Laura. Genau das meine ich!«

»Aber ... Warum ... Warum haben Sie bislang abgestritten, dieses Siegel zu kennen?«

»Das hab ich nicht, Laura. Ich habe nur gesagt, dass ich dir darüber keine Auskunft geben kann.« Ein tiefer Seufzer rang sich aus Morgensterns Kehle. Dann schritt der alte Mann zu seinem Sessel zurück und ließ sich darin nieder. »Wahrscheinlich kannst du es nicht verstehen, aber ich will dennoch versuchen, es dir zu erklären.«

Laura zog einen Stuhl dicht an den Sessel heran, setzte sich und blickte mit gespannter Erwartung auf den Professor.

»Wie du bereits ahnen magst«, hob Aurelius Morgenstern an, »zählt das Geheimnis um das Siegel der Sieben Monde zu den großen Mysterien der Menschheit. Schon in den Zeiten der ersten menschlichen Hochkulturen wusste man von seiner Existenz, und später fand es auch in den Apokryphen Erwähnung.«

Laura runzelte die Stirn. »Die Apokryphen?«, fragte sie überrascht. »Was ist denn das?«

»Das sind jüdische und christliche Schriften des Alten und Neuen Testaments, denen die Kirche die offizielle Anerkennung als Bibeltexte versagt hat. Deshalb werden sie nach dem griechischen Wort >apokryph< für >verborgen< Apokryphen genannt.«

»Aha.«

»In der Geheimen Offenbarung des Malachäus, die zu eben diesen Apokryphen zählt und deren Existenz der Vatikan seit ihrer Entdeckung beharrlich leugnet, steht geschrieben: >Wenn der Tag der Wahrheit gekommen ist, werden der Monde sieben am Himmel stehen; und nur jene werden die Pforte durchschreiten können, die im Besitz jenes Siegels sind.< Was als eindeutiger Hinweis auf das Siegel der Sieben Monde gedeutet wurde. Dieses Siegel stelle die größte Kraft auf Erden dar. Es mache Unmögliches möglich, verleihe Flügel, könne Berge versetzen und gewähre seinem Besitzer direkten Zugang zum Paradies.«

»Wenn das stimmt, dann muss dieses Siegel ja ungemein wertvoll sein.«

»Du sagst es, Laura. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass die Menschen zeitweise fieberhaft versucht haben, das geheimnisvolle Siegel zu entdecken. Legionen von Edelleuten und Gemeinen, von Rittern und Strauchdieben, von Sündern und Heiligen, von Abenteurern und Gelehrten haben sich über die Jahrhunderte hinweg auf die Suche nach diesem mysteriösen Artefakt gemacht. Kein Weg war ihnen zu weit, keine Strapaze zu groß und kein Mittel zu schmutzig, um an ihr Ziel zu gelangen - dabei wusste keiner von ihnen, wonach er eigentlich suchen sollte.«

Laura zog ein verwundertes Gesicht. »Sie haben nicht gewusst, wonach sie suchen sollten?«

Aurelius schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein - weil kaum jemand dieses sagenhafte Siegel jemals zu Gesicht bekommen hat. Bis zum heutigen Tag gibt es weder eine verlässliche Beschreibung noch eine verbindliche Abbildung. Zu allen Zeiten waren die Ansichten der Gelehrten und Weisen über sein Aussehen ebenso widersprüchlich wie die Vermutungen über seine Herkunft.«

Laura rückte näher an den Professor heran, um keines seiner Worte zu verpassen.

»Einige führen es auf die Pharaonen Ägyptens zurück«, fuhr er mit sanfter Stimme fort. »Deren Astronomen sollen es aus purem Gold gefertigt haben, als sie eine einmalige Planetenkonstellation entdeckten, der sagenhafte kosmische Kräfte zugeschrieben wurden. Andere behaupten, Moses habe es aus den Trümmern des Goldenen Kalbes schmieden lassen als Mahnung an die Menschheit, niemals vom rechten Weg abzuweichen. Weitere wiederum sind davon überzeugt, dass das Siegel einst von den Bewohnern des sagenhaften Atlantis angebetet worden sei, die mit der Zeit jedoch den Glauben daran verloren hätten und deshalb dem Untergang und dem Verderben geweiht gewesen seien.«

Laura kniff fragend die Augen zusammen. »Dann hat es Atlantis also tatsächlich gegeben?«

»Viele Menschen glauben das«, antwortete der Professor ernst. »Schon die Griechen und Römer haben sich im Altertum mit dem Rätsel um diesen sagenhaften Kontinent beschäftigt - und deshalb sollten auch wir zumindest nicht ausschließen, dass die Geschichte einen wahren Kern haben könnte.«

»Weil hinter der Oberfläche der Dinge viel mehr verborgen sein kann, als die meisten Menschen ahnen«, murmelte Laura nachdenklich.

Aurelius Morgenstern schmunzelte. »Genau - wie du schon einige Male selbst erfahren hast! Aber zurück zum Siegel der Sieben Monde: Einige vertreten die Ansicht, es sei aus den Münzen der Händler und Wucherer gefertigt worden, die Jesus aus dem Tempel zu Jerusalem vertrieben hat, weil sie aus einem Ort des Spirituellen einen Platz des Mammons und der Besitzgier gemacht hatten. Du siehst, Laura, die Vermutungen über den Ursprung des Siegels könnten kaum unterschiedlicher sein. In einem allerdings decken sich alle Theorien -«

Der Professor brach ab und musterte das Mädchen zufrieden, das ihn gespannt ansah. Laura wagte kaum zu atmen, die Wangen glühten, und die Augen glänzten, sosehr hatten die Erläuterungen des Direktors sie in seinen Bann geschlagen.

Endlich sprach Aurelius Morgenstern weiter: »Bei allen besteht Einmütigkeit über die schier wundersamen Kräfte, die diesem Siegel innewohnen, was die Jahrhunderte währende Suche mehr als verständlich macht. Doch ebenso, wie die Jagd nach dem Heiligen Gral bis in unsere Tage erfolglos geblieben ist, so war auch die Suche nach dem Siegel der Sieben Monde bis heute vergeblich. Vom Heiligen Gral konnte man immerhin zahlreiche konkrete Spuren entdecken, während die spärlichen Hinweise auf das Siegel der Sieben Monde letztendlich ins Leere führten.«

Laura schaute den Professor verwirrt an. »Soll das heißen, das Siegel des Sieben Monde wurde niemals entdeckt?«

»Das habe ich nicht gesagt, Laura.« Das Mädchen vernahm einen tadelnden Unterton in Morgensterns Stimme. »Im Gegenteil: Immer wieder ist es Menschen gelungen, sein Geheimnis zu ergründen - nur haben diese aus sehr verständlichen Gründen ihr Wissen für sich behalten. Die meisten sind jedoch gescheitert und konnten das Rätsel nicht entschlüsseln, allen Bemühungen zum Trotz. Nun verhält es sich ja bekanntlich so, dass uns Menschen nichts mehr quält als ein Problem, das wir nicht zu lösen vermögen, oder ein Geheimnis, das sich uns nicht erschließt. Noch dazu, wenn es von größter Bedeutung für uns ist. Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass viele dieser Unglücklichen in tiefe Verzweiflung und Depressionen gestürzt wurden - und dieses Schicksal wollte ich dir ersparen, Laura!«

Die Schülerin blickte den Professor ratlos an. »Jetzt versteh ich überhaupt nichts mehr«, sagte sie. »Dieses Siegel ist äußerst wertvoll und kann mir von größtem Nutzen sein! Das haben Sie doch eben selbst gesagt.«

»Natürlich - weil es sich genauso verhält! Das Siegel der Sieben Monde repräsentiert in der Tat die größte Macht unter dem Himmel, und nichts fürchten die Dunklen mehr als die Kraft, die von ihm ausgeht, aber -«

»Was aber?«

»- aber dennoch fand ich es viel zu früh, dir das anzuvertrauen.«

»Warum denn?« Lauras Gesicht hatte einen gequälten Ausdruck angenommen.

»Weil ich der Überzeugung war - und immer noch bin -, dass du noch nicht genug Reife besitzt, um das unermessliche Geheimnis des Siegels zu begreifen! Versteh doch, Laura, deine besonderen Kräfte sind noch nicht so weit ausgebildet, dass du dich bereits an diese schwierige Aufgabe heranwagen könntest.« Beschwörend blickte er seinen Schützling an, bevor er mit leiser Stimme fortfuhr. »Bedauerlicherweise war Dominikus anderer Ansicht als ich.«

»Und deshalb hat er mir heimlich aufgetragen, danach zu suchen?«

»Ja.« Morgenstern klang bekümmert. »Er hat dich gegen meinen Willen auf das Siegel der Sieben Monde hingewiesen - was ihn vermutlich das Leben gekostet hat. Denn natürlich wollten die Dunklen mit aller Macht verhindern, dass du von diesem Mysterium erfährst.«

Laura schwieg. Auch wenn sie nicht alles verstand, so ahnte sie doch, worauf der Professor anspielte. »Ich nehme an, Sie können mir nicht verraten, was es mit diesem Siegel auf sich hat, oder wo ich es finden kann?«

Ein sanftes Lächeln huschte über das Gesicht von Morgenstern. »Genauso ist es, Laura. Jeder von uns kann die existenziellen Wahrheiten nur dann begreifen, wenn er sie selbst herausfindet und am eigenen Leibe fühlt. Die Geheimnisse des Lebens sind nicht theoretischer Natur, sondern müssen von jedem Menschen selbst erfahren werden. Nur dann können sie ihre volle Wirksamkeit entfalten. Das gilt insbesondere für die Kraft, die mit dem Siegel der Sieben Monde verbunden ist. Sie ist so stark, dass sie den Kelch der Erleuchtung vor dem Zugriff der Dunklen zu schützen vermag. Wenn du ihr Geheimnis erkennst, wird sie dir helfen, deinen Vater aus der Dunklen Festung zu befreien und deine große Aufgabe zu erfüllen. Aber mehr, mehr darf ich dir beim besten Willen nicht verraten, Laura, selbst wenn ich wollte.«

Lukas war Laura diesmal keine große Hilfe. Dabei hatte er alles in seiner Macht Stehende unternommen, um die Schwester zu unterstützen - allerdings ohne jeden Erfolg. Er wirkte deshalb auch reichlich geknickt. »Ich hab wirklich keine Ahnung, was ich noch tun soll, Laura!« Deprimiert starrte er auf den Monitor seines Computers. »Ich hab sämtliche Internet-Suchmaschinen, die ich kenne, mit allen nur denkbaren Stichworten gefüttert und in allen mir zugänglichen wissenschaftlichen Archiven nachgeforscht. Und das sind eine ganze Menge, wie du dir vorstellen kannst! Aber das Ergebnis war überall gleich null. Rien. Zero. Es ist wie verhext, Laura. Ich bin nicht auf einen einzigen brauchbaren Hinweis gestoßen, der uns auf die Spur dieses Siegels führen könnte!«

»Das kann ich nur bestätigen!«, pflichtete Kevin dem Zimmergenossen mit bekümmerter Miene bei. »Es gibt wahrscheinlich nichts, was Lukas nicht versucht hat.« Zum Ausdruck seines Bedauerns zog der Junge die Schultern hoch. »Aber das Resultat war überall gleich niederschmetternd.«

Laura war plötzlich ganz beklommen zumute. Wenn nicht einmal ihr neunmalkluger Bruder ihr helfen konnte - wer dann? Miss Mary und Percy Valiant brauchte sie nicht zu fragen, so viel war klar. Das ungeschriebene Gesetz der Wächter verbot auch ihnen, ihr das Geheimnis des Siegels zu offenbaren.

Natürlich hatte auch Kaja nicht die geringste Ahnung, als Laura sie nach dem Siegel fragte. Sie durchquerten nach dem Abendessen auf dem Rückweg zu ihrem Zimmer gerade die große Halle. »Tut mir wirklich Leid«, antwortete die Freundin, »aber von einem solchen Siegel hab ich im Leben noch nicht gehört. Und bei allen anderen, die ich danach gefragt habe, war es nicht anders. Wenn du meine ehrliche Meinung willst, Laura: Allmählich glaube ich, dass es dieses Siegel überhaupt nicht gibt!«

»Du dummes Ding!« Die vorwurfsvolle Stimme, die in ihrem Rücken erklang, ließ Laura zusammenzucken. Dabei hatte sie diese sofort erkannt. Sie blieb stehen, drehte sich um und blickte auf das alte Ölgemälde an der Wand der Eingangshalle, von dem aus die ganz in Weiß gekleidete Silva Kaja mit tadelndem Blick musterte, um dann verständnislos den Kopf zu schütteln. »Wie kann man nur so töricht sein!«

Laura konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. »Sei doch nicht so streng mit Kaja«, bat sie die traurige Frau auf dem Gemälde. »Sie gehört nicht zu uns Wächtern und kann deshalb vieles nicht richtig verstehen.«

»Was noch lange keinen Grund darstellt, sie schlichtweg anzuzweifeln!« Silvas Gesicht glich einem einzigen Vorwurf, während sie Kaja immer noch strafend ansah.

Das Pummelchen warf Laura einen prüfenden Blick zu. »Ist es das, was ich vermute - oder bist du jetzt vollständig durchgeknallt?«

Laura lächelte Kaja beruhigend an. Sie wusste inzwischen, dass nur Wächter imstande waren, die Veränderungen auf dem alten Gemälde wahrzunehmen. Im Gegensatz zu ihren Freunden oder Mitschülern konnten sich auch nur Wächter mit der unglücklichen Silva unterhalten. Kein Wunder, dass Kaja verwirrt war. »Keine Angst, ich bin vollkommen okay. Ich will nur noch kurz mit Silva reden, dann erklär ich dir alles, okay?«

»Von mir aus«, brummte Kaja missmutig und blieb wartend neben Laura stehen.

Laura wandte sich wieder an die Frau auf dem Ölgemälde. »Willst du damit etwa sagen, dass du weißt, was es mit diesem Siegel auf sich hat?«

»Ich glaube schon!« Silva schenkte Laura ein trauriges Lächeln, das einem Ausdruck des Zweifels wich. »Allerdings bin ich mir nicht ganz sicher. Wenn ich mich jedoch recht erinnere, dann muss ich selbst dereinst im Besitz des Siegels gewesen sein. Zumindest hat der Grausame Ritter behauptet, dass mir nur das Siegel die Kraft verliehen habe, ihm zu widerstehen. Deshalb habe er dann auch dafür gesorgt, dass ich es verloren habe.« Einen Moment noch schaute sie Laura nachdenklich an, dann wanderte ihr Blick in die Ferne. Silva erstarrte, und auf dem Gemälde war alles wieder wie zuvor.

Ungeduldig stieß Kaja die Freundin an. »Was hat sie gesagt, Laura? Erzähl schon, komm!«

Laura ließ sich nicht lange bitten.

»Du meinst also wirklich, dass der Grausame Ritter ihr das Siegel geraubt hat?«, fragte Kaja ungläubig.

»Wenn ich sie richtig verstanden habe, ja. Das wäre doch auch nahe liegend: Reimar von Ravenstein wollte doch alles an sich reißen, was ihm kostbar erschien. Wenn das Siegel also tatsächlich so wertvoll ist, wie alle erzählen, dann hat er mit Sicherheit alles getan, um es in seinen Besitz zu bringen - glaubst du nicht auch?«

»Klingt zumindest plausibel«, stimmte Kaja nach kurzem Nachdenken zu, nur um bereits im nächsten Moment hinzuzufügen: »Aber leider hilft dir das auch nicht weiter.«

Laura grinste listig. »Doch, das glaub ich schon! Das hilft mir sogar mächtig weiter.«

Empört pustete Kaja die Wangen auf. »Aber, Laura, erinnerst du dich denn nicht mehr?«, sagte sie voller Empörung. »Die Schatzkammer des Grausamen Ritters ist doch vollkommen leer - ausgeraubt bis auf den letzten Rest. Das hast doch mit eigenen Augen gesehen, als wir dort nach dem Kelch gesucht haben!«

»Ja, und?«

»Oh, nö! Du scheinst es immer noch nicht zu kapieren!« Verzweifelt schlug Kaja die Augen zum Himmel. »Also noch mal ganz langsam: Wenn Reimar von Ravenstein das Siegel der Sieben Monde tatsächlich in seinen Besitz gebracht hat, dann ist es inzwischen längst spurlos verschwunden - klar?«

»Klar!«, stimmte Laura zu, während das Grinsen in ihrem Gesicht noch breiter wurde. » Jetzt befindet es sich in der Tat nicht mehr in Reimars Schatzkammer.«

»Na, siehst du!« Kaja schien schon beruhigt, als plötzlich alles Blut aus ihren Wangen wich. »Oh, nö!«, stöhnte sie. »Das kann doch nicht wahr sein! Du willst doch nicht etwa -«

»Doch, Kaja!«, unterbrach Laura sie ungerührt. »Genau das habe ich vor!«

*****

Schwerelos schwebte das Luftfloß hoch über dem Land der Flussleute dahin. Die zahllosen Wasserläufe und Seen, die die sattgrüne Landschaft durchzogen, glänzten im Licht der Nachmittagssonne. Das blaue Segel war vom Wind gebläht, und die stete Brise trieb das wundersame Gefährt in flotter Fahrt auf den Steinernen Forst zu.

Alienor fühlte sich behaglich wie lange nicht mehr. Mit gekreuzten Beinen saß sie in der Mitte des Floßes vor einem niedrigen Tisch. Der Levator - er hieß Aeolon - hatte ebenfalls die Beine gekreuzt und schwebte ihr gegenüber eine Handbreit über dem Boden.

»Willst nicht noch zugreifen, mein Mädchen?« Das Männchen lächelte aufmunternd und deutete mit seinen schmalen Händen auf die Speisen, die auf dem Tisch standen. »Brauchst keinen Hunger zu leiden in meiner Gesellschaft. Wenn's dich nach etwas ganz Besonderem gelüstet, nur zu: Etwas Schlangenpastete aus Deshiristan vielleicht? Oder geselchter Grolffschinken aus Karuun? Oder doch lieber gezuckerte Spinnenbeine aus dem Drachenland?« Der Wicht spitzte den Mund und verzog genießerisch das kugelrunde Gesicht. »Schmeckt alles so fein, dass man gar nicht weiß, was man zuerst essen soll und was nicht.«

»Vielen Dank, Aeolon, aber ich bleib lieber bei Wurst und Käse! Und wenn ich nachher noch ein paar Königsfrüchte haben könnte, wäre ich überglücklich.«

» Nichts leichter als das! Habe noch ein Dutzend Königsfruchtbäume abgeerntet, bevor ich dem Flugkraken eine Lektion erteilen musste.« Aeolon zählte zu den wenigen noch lebenden Levatoren, die die wundersame Fähigkeit besaßen, über den Dingen zu schweben. Über den Grund dafür waren sich die Gelehrten nicht einig. Manche behaupteten, ihr ballonförmiger Kopf verleihe ihnen den nötigen Auftrieb, andere wiederum führten ihre Fertigkeit auf eine seltene Mutation zurück. Eine hieb- und stichfeste Begründung jedoch hatte noch niemand liefern können. Wie seine Artgenossen war auch Aeolon ein Luftnomade. Auf seinem aus Schwebeholz erbauten Luftfloß streifte er kreuz und quer über die verschiedenen Regionen Aventerras dahin, flog mal hierhin, mal dorthin - wo immer der Wind ihn auch hintreiben mochte. Unterwegs erntete er Königsfrucht - und andere Schwebebäume ab, verkaufte die begehrten Früchte oder und tauschte sie gegen das Lebensnotwendige ein.

» Vielen Dank noch mal, Aeolon.« Alienor seufzte bei dem Gedanken an das schreckliche Erlebnis. »Bist gerade noch rechtzeitig gekommen.«

Der Levator zuckte gelangweilt mit den schmalen Schultern. »Ging nicht um dich, mein Mädchen, war ein Sache zwischen dem Untier und mir. Hatte es beobachtet, seit ich am Schwebenden Wald vorbeigekommen bin, wo die Biester nisten. Hatte noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, weil er und seine Brut sich immer wieder an meinen Früchten gütlich tun. Ist kein feines Benehmen, oder doch?«

Das Mädchen staunte. »Die Flugkraken fressen auch Königsfrüchte?«

Aeolon nickte. »Sollte man nicht glauben, was? Fressen mal dies und fressen mal das und dann wieder was anderes. Sind offensichtlich Leckermäuler, die an keiner Köstlichkeit vorüberfliegen können. Machen mir mein Geschäft kaputt, die Biester. Habe deshalb immer meinen Bogen dabei und weiß ihn gut zu führen.«

Alienor lächelte dankbar. »Zum Glück«, sagte sie. »Wie lange, meinst du, werden wir noch brauchen?«

Aeolon schwebte zum Rand des Luftfloßes, warf einen Blick in die Tiefe und schaute zur Sonne. Dann wiegte er bedächtig den Kopf. »Wird wohl einen halben Tag dauern, bis wir den Steinernen Forst erreichen«, erklärte er, nachdem er zum Tisch zurück geschwebt war. »Vielleicht auch mehr, vielleicht auch weniger.«

»Bist du sicher, dass wir dort auf die Wunschgaukler treffen?«

»Vielleicht ja, vielleicht nein - wie der Wind es will.« Das Männchen lächelte, wurde doch sogleich wieder ernst. »Würde mir meinen Plan noch mal gut durch den Kopf gehen lassen, Alienor. Kann vielleicht gut gehen, vielleicht aber auch nicht!«

Das Mädchen schwieg und blickte Aeolon nachdenklich an. In den knapp zwei Tagen, die es nun schon Gast des Levators war, hatte es ihn näher kennen gelernt. Seine Art, allen Dingen eher unentschieden, wenn nicht gleichgültig gegenüberzustehen und niemals einen festen Standpunkt einzunehmen, hatte sie anfangs sehr irritiert. Andererseits war er weit herumgekommen in Aventerra und hatte viele unterschiedliche Erfahrungen gesammelt. Vielleicht lag seine Unentschlossenheit ja darin begründet? Jedenfalls hatte er sich nur ein einziges Mal eindeutig festgelegt. Als sie ihm erzählt hatte, dass sie in die Dunkle Festung wollte, hatte er sie gewarnt: »Das kann niemals gut gehen!« Um dann sofort hinzufügen: »Obwohl - vielleicht ja doch oder nicht?«

Dagegen hatte er sich sofort dazu bereit erklärt, sie zu den Wunschgauklern zu bringen. Da er ihre Reiseroute mit seinem Luftfloß mehrmals gekreuzt hatte, meinte er zu wissen, wo sie zu finden waren. Alienor hatte deshalb ihre Decke und den Reisebeutel vom Sattel des Steppenponys genommen, den Braunen zurück nach Hellunyat geschickt - sie war sich sicher, dass er den Weg zur Gralsburg allein finden würde - und Aeolons wundersames Gefährt bestiegen, wo sich erst einmal satt aß, bevor sie in einen tiefen Schlaf fiel.

Der nächste Tag war buchstäblich im Fluge vergangen. Aeolon hatte ihr von den Abenteuern berichtet, die er unterwegs erlebt hatte. Im Rollenden Steinmeer und in den Donnerbergen, im Drachenland und in der Wüste von Deshiristan oder wie die Lande von Aventerra noch alle heißen mochten. Aeolon kannte sie alle. Selbst das Güldenland, wo Alienor und Alarik aufgewachsen waren, und natürlich auch die Wispergrasebene von Calderan, an deren nördlichem Ende Hellunyat gelegen war. Lange vor Alienor und Alarik hatte Aeolon dem Hüter des Lichts einen Besuch abgestattet und einige Tage auf der Gralsburg verbracht. Es gab nur eine Region von Aventarra, in die sich der Levator noch niemals gewagt hatte: das Reich des Schwarzen Fürsten mit der Dunklen Festung. »Keiner wird es schaffen, dass ich mich dorthin begebe. Selbst hundert Windgeister nicht!«, hatte er Alienor erklärt. »Der Schwarze Fürst versteht nämlich keinen Spaß, und ich bin froh, wenn ich nichts mit ihm zu tun habe!« Selbst ihr inständigstes Bitten, sie zumindest in die Nähe der Burg zu bringen, hatte er abgelehnt. »Bin doch nicht lebensmüde!«, hatte er erklärt.

Die Windgaukler dagegen waren kein Problem für ihn. »Sind gefährlich, sagen die einen, die anderen wieder nicht. Musst deine Erfahrung selber machen, mein Mädchen - die guten und die schlechten. Musst nie drauf hören, was die anderen dir weismachen wollen! Alles, was zählt, bist du.« Damit hatte er die Segel gesetzt. Dann waren sie aufgestiegen in die Lüfte, um über das weite Land der Flussleute dahinzuschweben. Immer in Richtung Süden, wo der Steinerne Forst gelegen war.

Alienor steckte ein Stück Wurst in den Mund und spähte in die Ferne, wo ihr Reiseziel liegen musste. Schon meinte sie, am Horizont kahle Bäume zu erkennen, die sich weit in den Himmel reckten, als sie einen riesigen Vogel entdeckte, der rasend schnell näher kam. Im ersten Augenblick dachte Alienor, dass es Pfeilschwinge sei, der Bote des Lichts und Wächter der magischen Pforte. Gut möglich, dass Paravain den Adler ausgesandt hatte, um nach ihr zu suchen. Schließlich vermochte kein Wesen in ganz Aventerra die Lüfte schneller zu durchmessen als Pfeilschwinge. Der Adler war sogar fähig, sich zwischen den Welten zu bewegen. Deshalb war er wie kein anderer dazu in der Lage, wichtige Botschaften zu übermitteln - oder eben Verschwundene aufzuspüren.

Da erkannte das Mädchen an den Konturen, dass es nicht Pfeilschwinge sein konnte. Es war kein Vogel, schon gar kein ein stolzer Adler. Bereits aus der Ferne wirkte das Flügelwesen abstoßend hässlich. Es verströmte Unheil, das fühlte Alienor sofort. Eine bange Ahnung stieg in ihr auf. Beklommen stieß sie Aeolon an. »Sieh doch! Was ist das denn?« Der Levator drehte den Kopf, und sein gelbes Gesicht wurde sichtlich blasser. »Bei allen Geistern!«, hauchte er. »Geht vielleicht gut, wahrscheinlich aber auch nicht!« Damit griff er zu seinem Bogen und holte einen Pfeil aus dem Köcher.

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